Rechte Wortnahme – Linke Wortgabe?

Von Antigenderismus, Islamkritik und Ethnopluralismus

Vorbemerkung

Der folgende Text war ursprünglich für einen Sammelband vorgesehen, der ursprünglich unter meiner Mitherausgeberschaft erscheinen sollte. Nachdem der Text bereits das interne Review-Verfahren durchlaufen hatte und finalisiert vorlag, intervenierte eine meiner drei Mitherausgeberinnen: Wenn dieser Text in dem Sammelband erscheine, könne sie nicht als Herausgeberin zeichnen! Die Sache entwickelte sich dahingehend, und gäbe, würde man sie hier ausführen, ein hervorragendes Beispiel dafür, was ich in dem Text kritisiere, dass ich schließlich meinen Text zurückzog und selbstverständlich auch auf die Mitherausgeberschaft eines Bandes verzichtete, aus dem mein eigener Text hinauszensiert wurde. Denn politisch, teilte man mir mit, läge der Text nicht auf der gegebenen Linie.

Einleitung

Auch wenn es etwas polternd wirken mag, möchte ich gern gleich die drei Karten, die ich im Folgenden auszuspielen gedenke, auf den Tisch legen[1]: Ich bin Antigenderist, nicht zuletzt als solcher halte ich Islamkritik für wichtig, und ich bin, als Ethnologe, professioneller Ethnopluralist. All dies aus einer Einstellung heraus, die ich nach bestem Wissen und Gewissen links verorten würde. Das klar zu betonen ist notwendig, da die mit diesen ‚Bekenntnissen‘ verbundenen Schlagworte (Antigenderismus, Islamkritik und Ethnopluralismus) eher von rechten als von linken Diskursen gebraucht werden bzw. vereinnahmt wurden. Das ist gemeint mit der ‚rechten Wortnahme‘ in der Überschrift dieses Beitrags, in dem ich an den genannten und zusammenführend in einer Conclusio anhand eines weiteren Begriffs, nämlich dem der ‚politischen Korrektheit‘, die Frage aufwerfen möchte: Ist eine Überlassung dieser Begriffe und teils auch damit verbundener Themenfelder an einen rechten Diskurs (also eine ‚linke Wortgabe‘) die richtige Strategie gegen damit verbundenes rechtes Denken und Agieren? Oder wäre es nicht eher im Sinne einer solchen Strategie, wenn daran gearbeitet würde, die teils aus dezidiert linken Diskursen kommenden Begriffe aus linker Warte und im Sinne linker Politiken zu resignifizieren? Ich meine letzteres, und zwar auch dann, wenn es stellenweise schwierig sein und Stellen berühren mag, die linkerseits oftmals eher gemieden, vielleicht auch daher teils nicht ganz ungern einem rechten Diskurs überlassen werden. Wie und warum ich das meine, werde ich im Folgenden ausführen.

Im Vorfeld schuldig bin ich noch eine Erklärung, was ich mit dem keineswegs unproblematischen, aber bis hier wie selbstverständlich gebrauchten politischen Begriffspaar ‚links‘ und ‚rechts‘ meine. Das Aufkommen der heute so üblichen Unterscheidung wird auf die Sitzordnung in der verfassungsgebenden (1789) und der folgenden französischen Nationalversammlungen zurückgeführt, in der auf der linken Seite die revolutionär-republikanischen, auf der rechten Seite die gemäßigt-monarchiefreundlichen Vertreter saßen. Die derart historisch verwurzelte Unterscheidung wird häufig noch immer im Sinne einer eindimensionalen Interessenpolarität verwendet, die den Realitäten nicht immer gerecht wird und zudem das Problem einer impliziten ‚Mitte‘ schafft, die an sich in Frage zu stellen wäre. Dennoch konnten mehrdimensionale Modelle politischer Grundeinordnungen (bspw. Bryson und McDil 1968) sich bislang nicht breitenwirksam durchsetzen, und auch hier seien – dem Gegenstand vorerst genügend – die Begriffe aus einem polarisierenden Grundverständnis her gebraucht, an dem sie dann an einzelnen Stellen prüfen mag, wer meinem Gebrauch misstraut.  Wenn ich von ‚links‘ schreibe, meine ich damit ein Streben nach internationaler Solidarität durchaus im Sinne des Klassenkampfes; erweitert – im Kontext dieses Beitrags – um ein Streben nach geschlecht*licher, religiöser und ethnischer Solidarität[2]. Dem Präfix ‚inter‘ ziehe ich dabei das Präfix ‚trans‘ vor, weil es nicht die Getrenntheit von Entitäten, zwischen denen etwas stattfindet, sondern Prozessualität und Übergänge zwischen ihnen konnotiert: Transnationale, -geschlecht*liche, -religiöse und -ethnische Solidarität verstehe ich dann als ein Bei- und Füreinandersein im Erstreben eines freien und unbedrohten Lebens in „egalitärer Differenz“ (Prengel 2001). Rechts ist dann, was einem Streben nach solcher Solidarität zugunsten eines – oftmals vermeintlichen – partikularen Vorteils entgegenarbeitet. Die Bestimmung ist grob, wird aber hinreichen, damit die Begriffe links und rechts im Folgenden nicht ganz ohne Boden bleiben.

I Antigenderismus

Wenn ich mich als Antigenderist bezeichne, dann gewiss nicht im Sinne der Autoren und möglicherweise auch einiger Autor*innen des einschlägigen Internetportals WikiMANNia[3], die Genderismus verstehen als eine „von der Regierung und internationalen Organisationen verordnete Ideologie“, die das Abendland, seine Männer und Frauen und von ihnen gegründeten Familien bedrohen würde. Vielmehr wäre ich, schon als Teil des Gender and Diversity Netzwerkes der Leuphana Universität, Teil einer solchen rechterseits konstruierten Verschwörung, in der die Genderstudies nur dazu da seien, „einer wachsenden Zahl von Akademikerinnen, die nichts Produktives leisten und sich echten wissen­schaftlichen Heraus­forderungen nicht stellen können und wollen, gut dotierte Posten zu verschaffen“.

Antigenderist bin ich aber durchaus, wenn man den Begriff des Genderismus so versteht, wie er von dem kanadischen Soziologen Erving Goffman in den 1970er Jahren eingeführt wurde: nämlich als „geschlechtsklassen gebundene individuelle Verhaltensweise“ (2001 [1977]: 113) und deren Perpetuierung durch gesellschaftliche Machtmechanismen, eben deren Herrschaftsverlust rechterseits gefürchtet wird. Der Begriff ‚Genderismus‘ bezeichnet also ursprünglich genau das, was die Autor*innen von WikiMANNia sich wünschen: Eine klare Unterscheidung von Mann und Frau und damit verbundene Gleichschaltung von sozialem Geschlecht, biologischem Geschlecht und Begehren (‚gender’, ‚sex’ und ‚desire’) nach heteronormen Muster. Das damit verbundene binäre Paradigma zu kritisieren ist ein genuines Arbeitsfeld der von rechter Seite angegriffenen Gender- und Queer Studies, wozu der goffmansche Begriff mit seinem vielfach in der Gender- und Queertheorie (etwa Butler 1990, Preciado 2003) weiterhin erforschten dekonstruktivistischen Horizont durchaus tauglich ist, indem er darauf hinweist: Dass ein Genderismus bspw. auch sexistischer Diskriminierung stets vorläufig ist, indem er Frauen und Männer und ggf. ‚andere‘ als solche überhaupt erst ‚herstellt‘. Im Vergleich zum Begriff des Sexismus ist der Genderismusbegriff weiter, weil er a) im Unterschied zu diesem kein vorrangig körperliches Verständnis (‚sex’) von Gender impliziert und b) anschlussfähiger an queere Diskurse ist, indem er in seiner historischen Entwicklung nicht den Fokus auf eine Diskriminierung von Frauen durch Männer eingestellt hat, sondern jegliche intergeschlechtliche Diskriminierung (also ggf. auch die von Männern durch Frauen, oder die von Transfrauen durch Cisfrauen) umfasst. Die Bezeichnung eines solchen kritischen Instruments möchte ich ignoranter Aneignung von rechts nicht überlassen. Es kann also, vom goffmanschen Begriff ausgehend, keineswegs darum gehen, ‚Strategien gegen Antigenderismus’ zu finden[4], sondern muss darum gehen: Den Kampf gegen einen hegemonialen Genderismus, dessen Beibehaltung von rechts gefordert wird, fortzuführen!

Eingeschränkt wird mein hier so kämpferischer bekundeter Antigenderismus dadurch, dass ich nicht nur Antigenderist, sondern ggf. auch Feminist, Maskulinist, Transfeminist und Transmaskulinist und so weiter bin, indem ich niemandem absprechen möchte, sich ganz unabhängig von biologischen Merkmalen innerhalb oder außerhalb geschlechtlicher Kontinuen zu verorten, und – was wohl eine Grundneugierde der Gender- und Queerstudies ist – stets neugierig wäre zu erfahren: Was eine*r darunter versteht, wenn sie*er sich als Frau, als Mann, als weder das eine noch das andere versteht. Ein fluides Grundverständnis von Identität darf auch den Wunsch nach festerer Identität nicht diskriminieren – solange dieser Wunsch nicht damit verbunden ist, andere in ihrem Wünschen, Wollen und Fließen einzuschränken[5].

II Islamkritik

Mein zweites Bekenntnis scheint mir schon auf etwas glatteres Eis zu führen: Ich halte Islamkritik für wichtig. Unter ‚Islamkritik‘ verstehe ich dabei gewiss nicht ein Marschieren ‚Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (PEDIGA) in Dresden und anderswo, und auch nicht Thilo Sarrazins Schwadronieren von einer „Feindlichen Übernahme: Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ (2018). Von oftmals rassistischer Muslim*innenfeindlichkeit ist die Islamkritik, die ich für wichtig halte, unbedingt abzugrenzen: nicht zuletzt, um eben eine solche Grenze klar ziehen zu können.

Der Sprachwissenschaftlerin Elisabeth Wehling stimme ich nicht zu, wenn sie im Interview mit Daniel Bax[6] pauschal äußert, „man kann den Islam gar nicht kritisieren“, weil das eine nicht mögliche Kritik der Religion als solcher bedeute. Sie fragt rhetorisch nach Äquivalenten wie einer „Judentumskritik, Buddhismuskritik?“ und impliziert, das gäbe es nicht. Weiterhin sagt sie, dass das, was „Islamkritik“ genannt wird, meist darauf hinauslaufe, „die Religion verantwortlich zu machen für alle Dinge, die in ihrem Namen getan werden“ – genau da sehe ich das Problem und eine erfolgte ‚rechte Wortnahme‘, die von Wehling gewissermaßen akzeptiert wird. Dem entgegen schließe ich mich Armin Pfahl-Traughbers Arbeitsdefinition an, die sich ausdrücklich gegen diese rechtskonnotierte Pauschalisierung des Begriffs abgrenzt: „‚Islamkritik‘ richtet sich mit Einwänden gegen bestimmte Erscheinungsformen der Religion, verwirft die Religion aber nicht im Sinne eines pauschalen Feindbildes“[7]. Letzteres wäre für ihn ‚islamfeindlich‘ im Unterschied zu ‚islamkritisch‘. Aus einem solchen Begriff heraus halte ich eine linke Kritik an Erscheinungen des Islam – wie auch an Erscheinungen des Judentums und des Buddhismus – für sehr relevant und denke, man kann Personen, die dies aus großer Kenntnis und unter hohem Einsatz ihrer zeitlichen Ressourcen tun, durchaus – analog zur Tradition der Kirchenkritiker*innen, was sich i.d.R. auf Positionen christlicher Glaubensgemeinschaften bezieht – als ‚Islamkritiker*innen’ bezeichnen. Und wo bspw. in religiösem Rahmen Wege genommen werden oder an Wegen festgehalten wird – was nicht ganz wenige Anhänger*innen des Islam, wie auch nicht ganz wenige Anhänger*innen jüdischer, katholischer, evangelischer und v.a. evangelikaler Glaubensgemeinschaften auch tun –, die etwa die Gleichberechtigung von Frauen und Männern nicht anerkennen, da muss von innerhalb und ggf. auch von außerhalb der Glaubensgemeinschaften Kritik geübt werden dürfen.

Samuel Schirmbeck führt in seinem Buch ‚Gefährliche Toleranz. Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam’ (2018) das Thema stellenweise sehr erhellend aus, indem er Stimmen muslimischer Islamkritiker*innen mit Stimmen (oder ggf. dem Schweigen) von Europäer*innen, die sich als links verstehen, kontrastiert. Sehr bedenklich ist allerdings, dass Schirmbeck seinerseits (trotz dezidiert linkem 68er Hintergrund) dabei rhetorisch nicht nur ausnahmsweise in rechte Fahrwasser zu driften scheint (von denen er sich ‚expressis verbis’ immer wieder distanziert), wenn er gegen ‚die Linken‘ und ‚den Islam‘ argumentiert, und ihm bisweilen auch entsprechende, und dadurch unhaltbare Pauschalisierungen unterlaufen. Man könnte meinen, hier wurde nicht nur ein Wort genommen, sondern ein Autor überließ sich und wurde überlassen aus links- an eher rechtskonnotierte Diskursräume.

Trotz Schlussfolgerungen und Kontextualisierungen Schirmbecks, die ich keineswegs teile, teile ich seinen Eindruck, dass nicht nur das Wort ‚Islamkritik‘, sondern auch das damit bezeichnete Feld von sich als links verstehenden Personen und Institutionen auf eine auch mir oftmals durchaus gefährlich scheinende Art und Weise gemieden wird. Wenn es etwa in der Einführung einer Schrift der Rosa Luxemburg-Stiftung heißt

Wir leben in einer Gesellschaft, in der es grundsätzlich möglich ist, das eigene Leben auf vielfältige Art und Weise zu gestalten: So ist zum Beispiel gleichgeschlechtliche Liebe weitgehend akzeptiert, Frauen und Männer sind gesetzlich gleichgestellt und können im Prinzip entscheiden, wie sie leben wollen. Allerdings werden diese Errungenschaften von rechtspopulistischen und christlich-fundamentalistischen Kräften, aber auch aus der liberalen Mitte heraus, zunehmend bekämpft oder infrage gestellt (Schutzbach 2018: 1),

dann stimme ich dem Bestehen einer Bedrohung aus den genannten Bereichen durchaus zu[8], komme aber dennoch nicht umhin, mich zu fragen: ‚Und von islamisch-fundamentalistischen Kräften?’. Das frage ich mich bedacht und kontextsensibel, aber viele, deren Hintergrund weniger linkspolitisch und rassismuskritisch ist, denken sich und äußern das ja auch in einschlägigen Foren und Postings hinreichend: Lügenpresse, Verschwörung, Hetze gegen Deutsche[9]. Eine solche Polarisierung wäre vermeidbar.

Ein Beispiel für über ein solches ’silencing‘ noch hinausgehende Abwehr islamkritischer Ansätze im o.g. Sinne wäre die Debatte um studentischerseits vorgebrachte Rassismusvorwürfe gegen die Frankfurter Ethnologin und Islamexpertin Susanne Schröter im Zusammenhang mit der von ihr veranstalteten Konferenz ‚Das islamische Kopftuch: Symbol der Würde oder der Unterdrückung?’ (am 08.05.2019 in Frankfurt am Main). Über eine Absage der Konferenz hinaus wurde von den Student*innen auch die Entlassung Schröters gefordert, da ihre Fokussierung auf Gefahren eines „politischen Islam“ (bspw. Schröter 2019) ihr als antimuslimisch ausgelegt wurde[10].

III Ethnopluralismus

Ich bin promovierter Ethnologe, und als solcher, wenn man so will, ein professioneller Ethnopluralist, indem ich davon ausgehe: Mehr oder weniger umfängliche soziale Vergemeinschaftungen bilden unterscheidbare Kulturen aus, die einander mehr oder weniger fremd sein können. Der Begriff ‚ethnos’ stammt aus dem Griechischen, und meinte u.a. im Gegensatz zum ‚demos’, dem ‚eigenen’, weil nämlich wahlberechtigten ‚Volk’, andere Völker. In der ethnologischen Fachgeschichte wurden darunter dann vorerst durchaus exotistisch wahrgenommene ‚Fremde Völker’, fürderhin eher ‚andere Kulturen’ oder ‚das kulturell Fremde’ (Kohl 2012) verstanden, wobei es mittlerweile ‚state of the art’ in der Ethnologie ist: Dass sich solcherlei ‚fremde Kulturen’  gleichermaßen in der Nachbarwohnung oder Eckkneipe ereignen können, wie auf der fernsten Südseeinsel, und das ob der Relativität der Fremdheitserfahrung ozeanischen Ethnolog*innen die deutsche Eckkneipe sein mag, was den frühen europäischen Ethnolog*innen die fernste Südseeinsel war (vgl. Leuschner 2019).

Mit der Bestimmung von ‚Ethnopluralismus‘, wie der rechte Aktivist Mario Alexander Müller sie in Anlehnung an Alain de Benoist[11] in ‚Kontrakultur’ gibt, einem im einschlägigen Antaios Verlag von Götz Kubitschek erschienen Lexikon des deutschen Flügels der sogen. ‚Identitären Bewegung’[12], würde ich sogar ein gutes Stück mitgehen: „Ethnopluralismus ist die Überzeugung, daß [sic!] die Vielfalt der Völker, Kulturen und Religionen  dieser Erde ihren Reichtum ausmacht und daher als Wert an sich erhaltenswert ist“ (Müller 2017: 78). Davon abgesehen, dass ich nicht von ‚Völkern’ spräche: ‚d’accord’. Weiter heißt es: „Diese Ansicht baut auf einer Universalismuskritik auf, die den Cultural und Linguistic Turn der Philosophie ernst nimmt“ (ebd.). Universalismuskritik, ja, zu der fühle ich mich als poststrukturalistischer Ethnologe auch verpflichtet. Weiterhin: „Jede Bewertung von Völkern und Kulturen findet bereits von einem kulturell verorteten Standpunkt aus statt. So etwas wie einen objektiven Ort der Beurteilung und damit einen weltweit gültigen Maßstab gibt es nicht […]“ (ebd.). Da scheint geradezu das bereits erwähnte (Anm. 1) Konzept des „situated knowledge“ der feministischen Theoretikerin Donna Haraway (1988) anzuklingen: Wissen ist situiert, und jegliche Wertung gewiss auch, und auch dem stimme ich zu.

Weder Donna Haraway, möchte ich meinen, noch ich stimmen dann aber mit der direkt anschließenden Folgerung überein: „– unsere Werte können nur hier bei uns gelten, wie die Werte anderer Kulturen nur bei ihnen gelten können“ (Müller 2017: 78 f.). Da wird das ganze Missverständnis, aus dem heraus Müller den Eintrag einleitend den Begriff „Ethnopluralismus“ zum „Zentralgestirn des identitären Denkens“ (ebd.: 78) erklärt, evident: Die territorialisierte Essenzialisierung eines so leicht ‚ad absurdum’ führbaren ‚Wir’ und ‚Ihr’, die gerade auch angesichts der (mittlerweile von weiteren Turns beerbten) Turns[13], auf die Müller sich beruft (Cultural und Linguistic Turn), keineswegs haltbar ist und realpolitische Forderungen betreffend auf ein Plädoyer GEGEN eine transnationale Solidarität hinausläuft: Stattdessen auf eine friedliche Koexistenz des sogen. Islamischen Staats und eines re-imaginierten ‚Deutschen Reiches’, ein jedes auf seinem gründlich begrenzten Grund und Boden. Oder noch einen Schritt weiter, wie Michel Houellebecq es in ‚Unterwerfung’ (2016) zeigt[14]. Das ist, wissenschaftlich und politisch betrachtet, nicht nur grober, sondern auch gefährlicher Unfug.

In der zeitgenössischen Ethnologie, die bekanntermaßen aus durchaus sehr ambivalenter Fachgeschichte hervorging[15], geht es darum, die erfahrbare relationale Fremde zwischen unterschiedlichen soziokulturellen Lebenswelten zu erforschen und zu verstehen zu suchen. Dadurch ist die Ethnologie geeignet, Universalismus- und Essenzialismuskritik gleichermaßen zu üben. Die rechte Vereinnahmung des Begriffes ‚ethnos’ nimmt genau an dieser Stelle eine gleichermaßen dumme wie gefährliche Abkürzung, indem zwar Universalismus kritisiert, ein dumpfer Essenzialismus aber propagiert wird.

Ich als Ethnologe sträube mich gegen diesen Missbrauch des Wortes ‚Ethnopluralismus’ von rechter Seite und möchte den Begriff des ‚ethnos’ dagegen verteidigen: nicht zuletzt durch die polydisziplinär angewandte ‚ethnographische Methode‘ (zur Einführung: Breidenstein et al. 2015) konnotiert der Begriff zeitgenössisch weniger den ihm etymologisch innewohnenden Volks-Begriff, sondern eher eine die Ethnologie als Disziplin konstituierende produktive und unbedingt relationale Fremdheitsbeziehung. Ansichten zur Fachbenennung sind aber innerhalb der ‚scientific community’ plural: Das ehemalige Institut für Ethnologie der FU benannte sich bereits 2015 um in ‚Institut für Sozial- und Kulturanthropologie’, dann auch 2017 die ‚Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde’ in ‚Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie’[16]. Die erwähnten Umbenennungen wurden kritisch diskutiert (Dilger et al. 2017) und erfolgten gewiss aus wohldurchdachten Gründen. Im Zusammenhang mit dem hier verfolgten Argument komme ich aber nicht umhin, zumindest kollateral, in der Umbenennung ein Zeichen weiterer Wortauf- und dadurch unwillentlicher Wortübergabe zu sehen.

Conclusio

Ich habe hier drei Begriffe vorgestellt, die auf unterschiedliche Art von rechter Seite vereinnahmt werden: Der Begriff ‚Genderismus‘ wird von rechter Seite schlicht umgekehrt, im Wortsinne: pervertiert. ‚Islamkritik‘ verschlagwortet einen Bereich an vielen Stellen notwendiger Kritik, den man keinesfalls rechter Polemik überlassen sollte. Der Begriff ‚ethnos’ wird in rechten Kreisen völlig unzulässig auf einen unvertretbaren Essenzialismus reduziert. Solchen Gebräuchen will ich diese Worte nicht überlassen! In meinen Ausführungen dürfte klargeworden sein: Es sind nicht nur Begriffe, sondern durchaus auch Inhalte, die von diesen Begriffen subsumiert werden, die teils gemieden werden, um ja nicht in rechts konnotierte Fahrwasser zu geraten. Auch Save Spaces und Triggerwarnungen dienen bisweilen als m.E. sehr gefährliche diskursive Schutzmaßnahmen, indem sie weite Bereiche zum Außerhalb erklären, in denen eine (um die Diskussion darum, wie weit sie ’neu‘ sein mag, hier zu suspendieren) ‚zeitgenössische‘ Rechte sich dann zur Alternative (sei es ‚für Deutschland‘) erklärt.

Ein weiterer Begriff, den ich sehr gerne ‚zurück‘ hätte, ist der ursprünglich von linksliberalen social movements verwendete […] Begriff politically correct, der innerhalb dieser Bewegungen – meist ironisch – als eine bewusste Form der Selbstkritik an dogmatischem Hardlinertum verwendet wurde (Manske 2000: 96), und dann als polemisch-pejorativer Begriff von rechter Seite instrumentalisiert wurde (vgl. ebd.)[17], wodurch heutzutage auch ein deutscher, muslim*innenfeindlicher Blog den Titel ‚politically incorrect’ für sich vereinnahmen kann.

Wozu möchte ich diesen Begriff wiederhaben? Wenn bspw. in der Theaterlandschaft ernsthaft diskutiert wird, ob ein auf der Bühne dargestellter Nazi das N-Wort verwenden darf[18], könnte ich gern sagen: Hier geht die ‚political correctness’ zu weit, arbeitet sich selbst entgegen, indem sie eine Phantasiewelt schafft, in der auch Nazis sich politisch korrekt verhalten – was nicht nur auf der einen Seite kritisch-realistisches Theater ausschließt, sondern auf der anderen Seite auch die Freiheit der Kunst auf sehr bedenkliche Art in Frage stellt.  An solchen Stellen muss klug von links kritisiert werden, sonst wird meist dumm, oder, schlimmer noch: bisweilen sogar intelligent, von rechts polemisiert[19]. Und ‚politically incorrect’ muss man m.E. dort sein (muss man, wenn man links sein will, im oben ausgeführten Sinne), wo es gilt, sich zwischen die Stühle zu setzen und Ambivalenzen auszuhalten.

Wenn ein Kollege mir im Gespräch mitteilt, die Überlegungen von Mariam Lau zur Seenotrettung hätten nicht veröffentlicht werden dürfen, damit solche Meinungen[20] nicht diskursfähig würden, dann sehe ich jemanden Ambivalenzen nicht aushalten und gefährliche Konsequenzen dafür in Kauf nehmen: nämlich den diskursiven Ausschluss unangenehmer Analysen, die sachlich zu diskutieren wären. Ein anderes Beispiel: Wenn ich in einem genderpolitischen Gespräch zur Berufswahl mit aller Vorsicht erwähne, dass – bei allem Spielraum – Menschen mit Penis tendenziell muskulöser, dadurch aber auch weniger beweglich sind als Menschen ohne Penis, und dann des sexistischen Biologismus beschuldigt werde: Dann wird ein Wissen, wenn auch in diesem Beispiel ein sehr banales Wissen, das wertungsfrei zu betrachten und auszuhandeln wäre, stattdessen aggressiv ausgeschlossen.

Bezüglich weiterer Beispiele diskursiver Ausgrenzungen, wie sie von sich als links verstehenden Akteur*innen vorgenommen werden, sei an dieser Stelle auf das wichtige und mutige Buch ‚Beißreflexe’ (L’Amour laLove 2018) verwiesen, in dem aus der queeren Szene heraus eine zunehmende Enge beklagt wird, wo es eigentlich einmal um mehr Weite ging. Auf eine solche Weite sollte man m.E., auch wenn man dabei Gefahr laufen mag, angesichts pluraler Politiken und ‚policies’ die eine oder andere ‚Inkorrektheit‘ zu begehen, beharren: zum einen, um weite diskursive Felder nicht von rechter Gesinnung beackern zu lassen und zum anderen, weil eine transnationale, transgeschlechtliche, transreligiöse und transethnische Solidarität nur in Weite und nicht in Enge erkämpft werden kann.

Literatur

Breidenstein, Georg/Hirschhauer, Stefan/Kalthoff, Herbert/Nieswand, Boris (2015): Ethnografie: Die Praxis der Feldforschung. Stuttgart.

Bruns, Julian/Glösel, Kathrin/Strobl, Natascha (2017): Die Identitären: Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa. Münster.

Bryson, Maurice/McDil, William R.(1968): The Political Spectrum: A Bi-Dimensional Approach. In: Rampart Journal of Individualist Thought, 4 (2): 19-26.

Butler, Judith (1990): Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York et al.

Dilger, Hansjörg/Röttger-Rössler, Birgitt/Zenker, Olaf (2017): Umbenennung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde e.V. in Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie e.V. am 6.10.2017 in Berlin. In: Zeitschrift für Ethnologie, Nr. 142: 133-140.

Dyson, Michael Eric/Goldberg, Michelle/Fry, Stephen/Peterson, Jordan (2019): Political Correctness: Ein Streitgespräch. München.

Goffman, Erving (2011): Interaktion und Geschlecht. Frankfurt am Main.

Haraway, Donna. Situated Knowledges (1988): The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective. In: Feminist Studies 14(3): 575–599.

Houellebecq, Michel (2016): Unterwerfung. Köln.

Kohl, Karl-Heinz (2012): Ethnologie – die Wissenschaft vom kulturell Fremden: Eine Einführung. München.

L’Amour laLove, Patsy (Hrsg.) (2018): Beiss-Reflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Berlin.

Leuschner, Hannes (2019): Ethnologie und Anomalistik: Ein Vergleich von Wissenschaft(s)/Kultur/en. In: Zeitschrift für Anomalistik 19 (3): 391–419.

Manske, Ariane (2000): Im Mainstream vereinen: Ursprünge und Konfliktfelder der US-amerikanischen Political Correctness-Diskussion. In: Forschung und Lehre (2): 94–96.

Müller, Mario Alexander (2017): Kontrakultur. Schnellroda.

Petermann, Werner (2004): Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal.

Preciado, Paul B. (2003): Kontrasexuelles Manifest. Berlin.

Prengel, Annedore (2001). Egalitäre Differenz in der Bildung. In: Lutz, Helma/Wenning, Norbert (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen, 93-107.

Sarrazin, Thilo (2018): Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht. München.

Schirmbeck, Samuel (2018): Gefährliche Toleranz. Der fatale Umgang der Linken mit dem Islam. Zürich.

Schröter, Susanne (2019): Politischer Islam. Stresstest für Deutschland. Gütersloh.

Schutzbach, Franziska (2018): „Gender raus!“ – Zwölf Richtigstellungen zu Antifeminismus und Gender-Kritik. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung und Rosa-Luxemburg-Stiftung. [Link: https://www.gwi-boell.de/de/2017/07/04/gender-raus-12-richtigstellungen-zu-antifeminismus-und-gender-kritik ; 11.08.2020.


[1]   Wie hier gleich eingangs, werde ich auch im Folgenden häufig – wie sowohl in wissenschaftlicher Essayistik als auch in ethnographischen Texten nicht unüblich – die Ich-Form verwenden, um deutlich zu machen (und nicht hinter einem anonymen ‚man‘ oder Passiv-Konstruktionen zu verbergen), dass dieser Text aus der Situiertheit (Haraway 1988) ‚meines‘ professionellen Wissens und Wahrnehmens (als Schriftsteller und Ethnologe) geschrieben ist, das sich, so professionell es auch sein mag, niemals ganz von einer auch persönlichen, sozialen, politischen Situiertheit trennen lässt: Dies Wissen und Wahrnehmen biete ich an zu Dialog, Diskussion und ggf. auch Widerspruch.

[2] Über die Themen dieses Beitrags hinaus selbstverständlich auch ein Streben nach Solidarität bezüglich ablistischer, generationaler und jedwelcher weiterer Differenzkriterien, anhand derer Menschen Diskriminierung erfahren.

[3] Die folgenden zwei Zitate: https://de.wikimannia.org/Genderismuskritik [abgerufen am 10.02.2020].

[4] Ein Programmpunkt der Jahrestagung der Landesarbeitsgemeinschaft der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung in Niedersachsen (LAGEN) 2018 in Osnabrück.

[5] Problematiken, die mit einer solchen vorerst selbstverständlich scheinenden Aussage verbunden sind, zeigen sich exemplarisch am ‚TV-Duell‘ zwischen Alice Schwarzer und Verona Feldbusch (mittlerweile Pooth) in der Johannes B. Kerner Show (2001), in der Feldbusch Schwarzer vorwirft, stets ‚für alle Frauen‘ sprechen zu wollen, wovon sie sich auszunehmen beharrt. Analytisch gesprochen: Was Schwarzer aus struktureller Analyse vertritt, wird von Feldbusch als repräsentationalistisch kritisiert.

[6] 25.07.2018; Onlineressource: https://mediendienst-integration.de/artikel/es-gibt-keine-islamkritik.html.

[7] 17.06.2019; Onlineressource: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/180774/islamfeindlichkeit-islamophobie-islamkritik-ein-wegweiser-durch-den-begriffsdschungel

[8] Das ‚zunehmend‘ würde ich allerdings aus historischer Perspektive hinterfragen: ‚Zunehmend‘ seit wann denn? Erst seit 1994 ist Homosexualität in Deutschland nicht mehr strafbar; bis 1997 existierte juristisch Vergewaltigung nur außerhalb der Ehe. Zumindest bis in die jungen 2000er Jahre müsste man meiner Einschätzung nach eher von einer Zunahme gesamtgesellschaftlich Offenheit sprechen; der Beginn eines backlash, auf den die Broschüre hinweist, ist also eher jungen Datums und läuft parallel zu einer auch noch immer fortschreitenden Öffnung der Gesellschaft, was Respekt gegenüber einer Diversität von Identitäten und Lebensentwürfen betrifft: Verschiedene diskriminatorische Einstellungen, die mittlerweile aus einem breiten Konsens heraus skandalisiert werden, galten vor wenigen Jahrzehnten noch als weitgehend ‚normal‘.

[9] Womit drei rechterseits häufig verwendete Topoi zitiert sind, die an anderer Stelle ausführlicher analysiert werden müssten. Als Einblick in linkssituierte Diskurse um ‚Lügenpresse‘ und ‚Verschwörung‘ sei auf die im Internet bereitgestellte „entschwörungs-taz“ verwiesen, in der sich die Redaktion der tageszeitung mit Vorwürfen ihrer Leser*innen auseinandersetzt, zu Zeiten der COVID-19-Pandemie zu sehr einem von Regierungsseite vorgegebenen ‚Mainstream‘ zu folgen: http://download.taz.de/Entschwoerungstaz_2020_05_20.pdf.

[10] Vgl. bspw. die Berichtserstattung in der taz vom 26.04.2019: https://taz.de/Kopftuchkonferenz-an-Uni-Frankfurt/!5590822/

[11] Französischer Publizist und Philosoph; wichtiger Vor- Mit- aber teils auch Querdenker der Nouvelle Droit.

[12] Zur europaweiten Bewegung der ‚Identitären‘ siehe Bruns et al. 2017.

[13] Also oft poly- und interdisziplinär vollzogene ‚Wendungen’ in den Wissenschaften; teils als ‚Paradigmenwechsel’ beschrieben, in der Regel aber eher Hinwendungen der Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte / Forschungsansätze.

[14] Der 2015 unter dem Titel ‚Soumission’ auf Französisch ersterschienene Roman schildert eine zeitnah (2022) verortete Dystopie, in der ein populistischer islamistischer Politiker französischer Staatspräsident wird und die laizistische Verfassung in eine theokratische ändert um Scharia, Patriarchat und Polygamie einzuführen. Der Clou von Houllebecqs kontroverser Erzählung liegt darin, dass Vertreter der ehemals oppositionellen Rechten sich dann hervorragend mit den neuen Machthabern und deren Gesellschaftsordnung zu arrangieren wissen.

[15] Zur Geschichte der Ethnologie: Petermann 2004, worin auch Verwicklungen mit Kolonialgeschichte und Nazi-Herrschaft behandelt werden.

[16] Für eine Vielzahl von Positionen zu dieser Umbenennung verweise ich die Aufarbeitung des Blogs ‚What’s in a name – Wofür steht die Umbenennung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde?’: https://pure.mpg.de/rest/items/item_3215680/component/file_3215792/content.

[17] Öffentlichkeitswirksam diskutiert wurde der Begriff in jüngerer Zeit im nordamerikanischen Raum durch die Munk-Debatte 2018 zwischen Michael Eric Dyson, Michelle Goldberg, Stephen Fry und Jordan Peterson (Dyson et al. 2019).

[18] Siehe den Beitrag von Barbara Behrendt vom 03.06.2017 in Deutschlandfunk Kultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kunstfreiheit-oder-rassismus-das-n-wort-polarisiert-das.2159.de.html?dram:article_id=387809.

[19] Thomas Wagner führt in seinem Buch ‚Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten’ (2017, insbes. 128ff) aus, wie zeitgenössische rechte Akteur*innen sich an Taktiken der Spontis und APO der 68er-Generation bedienen, und dass die Reaktionen darauf nicht selten denen des damaligen ‚Establishments‘ gegen linke Provokationen gleichen. Ein Beispiel für solche Taktiken wäre die eine sehr kurze Rede einleitende sehr lange Begrüßung des AfD-Abgeordneten Steffen Königer am achten Juni 2016 im Potsdamer Landtag, in der er fast drei Minuten lang die seinerzeit von Facebook angebotenen Geschlechtertypen adressierte (mit hart gesprochenem  ‚g‘, wenn er ‚gender‘ ausspricht). Eine Intervention des Präsidenten nach etwa eineinhalb Minuten unterbindet er mit dem Kommentar, er sei ja noch nicht einmal mit der Begrüßung fertig. Eine Videoaufnahme der Rede ist nebst meist einschlägigen Kommentaren einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=P02_TotSKIw.

[20] In einem von Caterina Lobenstein und Mariam Lau am 12.07.2018 in der Zeit in Form eines Pro und Contra veröffentlichten Artikel zur privaten Seenotrettung im Mittelmeer (https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra) vertritt Lobenstein die Perspektive, dass „Retter helfen, wo Politiker versagen“ (ebd.). Lau hingegen vertritt die Perspektive: „Retter vergrößern das Problem“, das sie als „ein Problem aus der Hölle, ein politisches Problem“ bezeichnet. Ihre Kritik an „Nebenwirkungen gutgemeinten Handelns“, wie die ungewollte Unterstützung illegaler Schleuserbanden, wurde in hohem Maße skandalisiert.

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Zöllner

    Das sind lesenswerte Differenzierungen zu politischen Kampfbegriffen. Danke dafür!

    Ich möchte hier kurz an eine für mich wichtige Stelle anschließen, in der Sie sich von der Verwendung des Wortes ,Volk‛ distanzieren. Eigentlich ein verständlicher Standpunkt angesichts einer schwierigen deutschen Vergangenheit. Ich selbst reagiere geradezu allergisch auf dieses Wort und stehe deshalb vor dem Problem, wie ich mich überhaupt zu Kollektiven stellen soll. Ich versuche Individualität ohne Kollektivität zu denken, was schwierig ist angesichts eines wiederum primär links oder linksliberal zu verortenden Primats der Gesellschaft. Und nun werden die Begriffe wirklich schwierig: Gesellschaft, Zivilgesellschaft, ,Volk‛, Kollektiv, Gemeinschaft, Intersubjektivität – es ist ganz schön anspruchsvoll das alles auseinanderzuhalten.

    Aber als Ethnologe und ,Ethnopluralist‛ sind Sie ja letztlich doch eher an (kulturellen) Gruppen orientiert als an Individuen. Genau deshalb ist das mit der Universalismuskritik für mich ebenfalls eine heikle Sache. Denn die Individuen, in ihrer Einzigkeit, sind auf einen kulturüberschreitenden Universalismus angewiesen, der sich nicht darauf beschränkt, die Einheit einer allem übergeordneten Gattung zu postulieren, sondern Menschenrechte meint. Also Menschenrechte, die sich nicht auf ethnische Gruppen beziehen, sondern auf die Menschen in den ethnischen Gruppen.

    Was also überlebt vom ,Volk‛, von dem wir nicht mehr gerne sprechen wollen, in einem Ethnopluralismus, der die Verschiedenheit von Gruppen höher bewertet als die Verschiedenheit von Individuen?

  2. Hannes Leuschner

    … vielen Dank für Ihren Kommentar und den sehr interessanten Anschluss … Ja, das ist ja, wenn ich Sie hier richtig verstehe, auch m.E. sozusagen eine der ganz großen und gemeinen Fragen, ob das, was ‚wir‘ – gemutmaßt unter anderen Sie und ich – als schützenswerte Menschenrechte verstehen als universales ‚Recht‘ behauptet, und ggf. durchgesetzt werden … kann und ‚darf‘? Vom ‚Gattungswesen Mensch‘ einmal abgesehen, das ja sogar auch fraglich werden kann, wenn wir ganz auf Einzelne sehen: Da ist einer, der sich als Bananenbaum, eine andere, die sich als Katze versteht. Ist es ‚unser‘ Recht zu sagen: Nein, Du bist doch ein Mensch?! Ihre Formulierung im letzten Absatz öffnet eine sehr spannende Frage, finde ich, wobei über die Frage nach dem Ineinander von Gruppen und Individueen hinaus zu fragen wäre, was denn ein Individuum letztlich ist – es ist ja nur zum geringsten Teil das, was es als ‚es selbst‘ verstehen mag, und die Betonung dieses ‚Selbst‘, dieser ‚Individualität‘, das ist freilich schon wieder eine kulturelle Frage … habe übrigens der Neugierde halber einmal auf Ihren Weblink geklickt, Server wurde aber leider nicht gefunden … Beste Grüße!

  3. Zöllner

    Was den Server betrifft, suchen Sie einfach per Suchmaschine nach Erkenntnisethik. Unter den Fundsachen ist dann auch mein Blog. Aber ich habe hier die URL auch nochmal neu angegeben.

    Zum Individuum: es ist keine Identität! Ich betreibe hier keine Identitätspolitik.

    Was ich unter Universalismus verstehe ist eben nicht Allgemeinheit oder Verallgemeinerbarkeit. Sie ist die Universalität der Differenz. Meinetwegen auch Bananenbäume oder Katzen. Die Menschheit realisiert sich in dieser Differenz und nicht als Gattung. Es ist Differenz auf Basis der Gleichheit (alle sind verschieden, aber vor allem sind sie gleich: gleiches Recht, sein/ihr Leben zu führen) und nicht Gleichheit auf Basis der Differenz, was immer in Gefahr läuft, Privilegien zu behaupten. Ich bin reich und ihr seid arm; na und? Das ist halt unsere Differenz.

  4. Hannes Leuschner

    … da scheint etwas ins Missverständnis geraten zu sein: Ich hatte keineswegs den Eindruck, Sie betrieben Identitätspolitik, die ja in der Regel auch eher das identitäre Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe meint, die eben Sie mit einer schönen Formulierung in Frage stellten … Was Sie nun schreiben, erinnert mich sehr an das ja auch in meinem Aufsatz zitierte Konzept der Egalitären Differenz, das politisch sicher erstrebenswert ist – aber eben ’natürlich‘, möchte man sagen, auch ein kultureller Entwurf ist – neben solchen, die meinen, Männer hätten mehr Rechte als Frauen, der Fuchs das Recht, den Hasen zu fressen, die Gebildeteren die Pflicht, über die Ungebildeteren zu herrschen, ein X die Pflicht, die Y zu hassen und so weiter … und wenn man sagt, der ‚eigene‘ Entwurf, beispielsweise des Strebens nach Egalitärer Differenz, sei für alle Beteiligten letztlich … menschlicher, vulgo: besser, dann wird man nolens volens pädagogisch und ggf., um einen bösen Begriff zu verwenden, aus einem gewissen Framing heraus betrachtet ‚kulturimperialistisch‘.

  5. Zöllner

    Sie treffen genau den Punkt. Nicht von ungefähr nenne ich meinen Blog „Erkenntnisethik“. Tatsächlich bin bzw. war ich fachlich auch Erziehungswissenschaftler. Also gewissermaßen eine Berufskrankheit.

    Ich versuche aber, so viel wie möglich, auch das Allzumenschliche in der Menschlichkeit zu erfassen und nenne das dann Anthropologie. Philosophische Anthropologie natürlich. Mit Bezug auf Plessner.

    Deshalb bin ich auch auf Distanz zur Ethnologie. Denn ganz ehrlich: die Ethnologen sind doch die ersten, die an den besseren Menschen im ‚Primitiven‘ glauben?

  6. Hannes Leuschner

    Naja, was ‚die Ethnologen‘ betrifft … von ‚Primitiven‘ ist freilich bei ihnen die Rede nicht mehr, und auch das dazumal damit verbundene Konzept, die damit vollzogene Zuschreibung wird – zum Glück, auch die Ethnologie generiert bisweilen aus Erkenntnis Ethik – eigentlich kaum noch verhandelt … Eine gewisse Faszination für das ‚kulturell Fremde‘, ggf. auch ‚Abgründige‘ ist aber sicher vielen Ethnolog_innen zueigen, und auch ethnoromantizistische Perspektiven (die man böswillig als Wiedergeburten des Edlen Wilden, gewissermaßen dann also doch wieder ‚Primitiven‘) verstehen kann, werden durchaus noch vertreten … wie, nebenher bemerkt, ja teils auch Pädagog_innen im Kind das Edle Wilde sehen … Letztlich ist es, denke ich, und das ist vielleicht der Punkt, zentral für die ethnologische Methodik, sich pädagogischer und politischer Urteile und Voreingenommenheiten nach Möglichkeit zu enthalten … das gelingt natürlich nie, aber auch das Misslingen generiert Daten: autoethnographische nämlich, die dann autoethnologisch zu verhandeln sind … Die Ethnologie kann Pädagogiken und Politiken untersuchen, ‚darf‘ aber an sich nicht pädagogisch oder politisch werden … auch wenn es manchmal schwer fallen mag …

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