Zu Zeiten von Hosseins Großvater und Hosseins Großmutter, zu seinen Zeiten, zu Zeiten, wo der Vater zur Welt kam und Knabe wurde, gab es kein Covid, aber Hunger bisweilen. Im Dorf wurde Holzkohle hergestellt, aber es gab keinen Reis, und so sind immer im Herbst die Männer aus dem Dorf über die Berge nach Nordiran an das Kaspische Meer gezogen, wo es Reis gab, aber keine Holzkohle. Auf dem Hinweg trugen die Maulesel also Holzkohle, und auf dem Rückweg trugen sie Reis, und die Fahrt dauert heute mit dem Auto vier Stunden, und damals, mit den Maultieren durch die Berge, deren höchster über fünftausend Meter in den Himmel ragt, war es eine Reise mehrerer Tage durch ein Paradies, wunderschön, in dem der Mensch sich zurechtfinden muss.
Eines Jahres, in unbestimmter Vergangenheit, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, fragt man sich, während eines der europäischen Weltkriege vielleicht, fragt man sich, oder zwischen den Kriegen, war die Nahrung knapp im Dorf, ein schwieriges Jahr. Die Geschichte, sagt Hossein, hat seine Großmutter erzählt, hat sein Vater erzählt, und viele Leute im Dorf erzählen sie noch heute. Die Männer sind aufgebrochen mit der Holzkohle und zurückgekehrt mit dem Reis, durch die Herbstkälte der Berge, und einige Stunden bevor sie das Dorf erreichen würden, schloss ein Wildschaf sich der kleinen Karawane an. Hat sich einfach angeschlossen, sagt Hossein, und die Männer hätten erst gedacht: Das Schaf hat Hunger und glaubt, wir würden ihm etwas zu essen geben, und sie haben unter sich abgemacht: Damit es keinen Streit gibt, wer das Schaf nimmt, nimmt keiner von uns das Schaf, und wir überlassen es dem Schaf, was es tun will, denn hat nicht Allah dieses Schaf wie uns in die Welt geschickt? Es soll mit Allahs Hilfe selbst entscheiden, was es will, und das Schaf wollte den Männern bis in das Dorf hinein folgen, dieses wilde Schaf, das eigentlich Angst vor den Menschen hat, was war das für ein Schaf? Im Dorf angekommen, ist ein jeder nachhause gegangen, und Hossein sagt: Und das Schaf ist mit meinem Großvater, und Hossein sagt, er bekommt immer Gänsehaut, wenn er diese Geschichte erzählt, und Hossein beginnt das erste Mal, während wir diese Gespräche führen, zu weinen in seinen Erinnerungen: Und das Schaf ist mit meinem Großvater gegangen, so waren die Schafe, so waren die Iraner, so war Allah zu dieser Zeit, und es war ein sehr schlechtes Jahr und meine Großmutter hat erzählt: Von dem geschlachteten Schaf haben die Leute wochenlang gegessen im ganzen Dorf, der große Topf, in dem sie es bereitet hat, nachdem der Großvater es geschlachtet hat, war immer voll, und die Leute kamen mit ihren kleinen Töpfen zum Haus der Großeltern von Hossein, wir wissen nicht, ob sein junger Vater schon im Haus wohnte, und holten sich Tag für Tag von dem Fleisch des Schafes, das sich dem Dorf geschenkt hatte. Denn geschlachtet hat immer der Großvater, und gekocht hat immer die Großmutter, auch das ist heute anders: Mein Bruder Abas, zum Beispiel, denn überall sind die Zeiten modern geworden, wenn wir ihn jetzt besuchen, er wird sofort ein Essen bereiten und die wichtigsten Teile vom Essen, das Fleisch, das macht er auf dem Grill und seine Frau allenfalls den Reis und das Gemüse in der Küche, und so bin ich auch, so ändern sich die Zeiten.
Wenn man die Geschichte so erzählt, sagt Hossein, und schnäuzt sich, und lacht, da sagt man, nein, so etwas gibt es nicht, aber ich habe dem nachgeforscht, und mein Vater hat das erzählt, und meine Großmutter hat das erzählt, und viele Leute erzählen das: Der Topf war immer voll und ist nie leer geworden, denn so waren die Menschen damals, ehrlich und freundlich, und so war auch die Natur zu ihnen, ehrlich und freundlich, und heute?
Ich muss an Geschichten denken, die man mir in Brasilien erzählt hat, wieder einmal, 2020, bevor ich drei Tage bevor der Flugverkehr lahmgelegt wurde noch ohne Maske über ruhige Flughäfen nach Frankfurt flog, um einen nahezu menschenleeren ICE nach Lüneburg zu nehmen: Die Caipira wohnte früher in den Wäldern, eine Hexe, eine Kraft der Natur, eine gefährliche, die sich Kinder holte und den Unvorsichtigen den Kopf verdrehte, den Kopf verdrehte, aber heute braucht man keine Angst mehr vor ihr haben: Denn wo soll sie denn noch wohnen, fragte ein Freund, der sich auskennt mit solchen Dingen, wo soll sie denn noch wohnen zwischen den Städten, dem Weideland und den Wegen und Straßen? Was früher ein Unglück war, ist heute ein Glück, die Caipira noch rufen zu hören.
Trotz der Entseelung der Landschaft, der Überbevölkerung, aber: Eine Ein-Kind-Politik kann sich niemand wünschen, auch keine Sterilisierung durch Wohlstand, auf lange Sicht, wie man so sagt, aber: Vielleicht wird man die sogenannte Selbstregulierung eines Tages Caipira nennen, oder die Caipira: wird wieder auftauchen als Selbstregulierung, als sogenannte, und könnte einem das nicht womöglich lieber sein als eine Sterilisierung durch Wohlstand? Wieder Hunger zu haben, damit die Schafe wieder kommen?
Auch an andere Geschichten aus Brasilien denke ich, an den Evangelikalen etwa – Amen! –, der sich bei meiner lieben Bekannten und Friseurin Analice die Haare schneiden ließ, während ich auf dem Sofa saß und auf irgendetwas wartete. Wie er erzählte, dass ein Freund von ihm, ein Freund vieler tausender Evangelikaler, darf man vermuten, einen Job in einer Autowerkstatt bekam, obwohl er gar nicht Auto fahren konnte, und um ihn bloßzustellen, forderten seine katholischen Kollegen ihn auf, ein Auto in einer großen Halle von A nach B zu fahren, und er setzte sich in das Auto und sein Vertrauen in Gott und bat: Gott, hilf! Und er dankte, wie es ihm gelang, von A nach B zu fahren, und die Kollegen blieben mit offenen Mündern: Denn es war gar kein Benzin im Wagen getankt gewesen, der Heilige Geist hatte sich bewiesen!
Und an ein Stück Weg durch die Ränder Hannovers denke ich, mit meiner damaligen Freundin, der ich vielleicht in ein paar Jahren zufällig, wie man so sagt, einmal wieder begegnen mag, und der ich die Geschichte von Hosseins Großvater erzählt hatte, denn es ist eine Geschichte zum Erzählen, und wie sie von einem Treffen der Emerging-Church-Bewegung erzählte, oder der Jesus Freaks, ich weiß es nicht mehr genau, weiß aber noch, dass wir erst an einer Kirche und dann an einer Moschee vorbeikamen, wie wir darüber sprachen, wo zwei erzählt hatten: Wie sie auf Mission irgendwo in Lateinamerika waren, kein Geld mehr hatten und ihnen jemand ein paar Pesos oder Bolivianos gab, um ein Brot zu kaufen, und wie sie in dem Brot: eine große Menge Geldes fanden, die Gott darin für sie eingebacken hatte – oder ein Drogenkurier als Gefäß Gottes, wer weiß das schon? Ich weiß noch, wie trüb der Tag war, wir waren von der Mergelgrube gekommen, die man sich unbedingt ansehen muss, wenn man einmal in Hannover ist, und es war ein Tag gewesen, der auf eine Nacht aus Streit gefolgt war, und das nahe Auseinandergehen der Beziehung konnte man schon seit Wochen spüren. Ein Schaf folgte uns nicht, auf diesem Weg, und Geld fanden wir auch keines auf der Straße oder einen Blick, das eine im anderen, der etwas verändert hätte.
Ich habe, sagt Hossein, neulich mit meiner Schwester, die in Amerika lebt, darüber telefoniert und sie hat mit einem Cousin gesprochen, und der Cousin hat das Gleiche erzählt, und hat auch gesagt: Da muss man irgendetwas machen, damit diese Geschichte bekannt, lebendig wird, dass sie allen mitgegeben wird, besonders in unserer Familie, dass die Kinder sie mitbekommen, dass sie nicht kaputtgehen am Verlust der Hoffnung, denn die Geschichte handelt nicht nur von einem Schaf, sondern sie handelt von Hoffnung: Die haben nichts gehabt, und auf einmal kommt etwas, aus Nichts kommt es, aus Allem kommt es, aus dem Himmel kommt es, aus dem Universum. In der Natur, mit in das Dorf.