Es mag

zwischen drei und vier Uhr sein, irgendwo im frühen Übergang zwischen Nacht und Morgen. Ich habe ein Zimmer verlassen, in dem ich vor mehr als zehn Jahren in einer süddeutschen Stadt nicht gerne und von vielen Kümmernissen heimgesucht gelebt habe. Das Gebäude, in dem dies Zimmer lag, habe ich schon hinter mir gelassen; die Straßen sind dunkel und leer und fühlen sich sicher an. Die Straßen des Viertels steigen leicht an, wie es der Umgebung um das Zimmer, in dem ich seinerzeit wohnte, entsprach, aber es sind doch andere. Vor einem Gebäude stehen zwei Laternen, die ein weißliches Licht geben, und gelbliches Licht fällt durch eine Glastür an der Seite des Gebäudes; seine hölzerne Haupttür ist verschlossen. Es handelt sich, erinnere ich mich, an einen Bahnhof. Nach den Schienen, die zu ihm hin- oder von ihm wegführen müssten, frage ich mich nicht; auch frage ich mich nicht, warum er in einem höhergelegenen Gebiet der Stadt, und nicht im Tal gelegen ist. Ich habe wohl vor, zu verreisen, trage auch einen großen Rucksack auf dem Rücken. Durch die Nebentür betrete ich das Gebäude und gehe einen kleinen Korridor entlang, der zu einer Wartehalle führt. Ich hätte nicht erwartet, zu dieser Stunde auch andere Personen schon am Bahnhof vorzufinden. Nichts an der Umgebung hatte darauf hin gedeutet, dass ein tägliches Leben in dieser Stadt oder von dieser Stadt aus nun schon beginnen würde, und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass bald ein früher Zug fahren würde, eher das Gefühl, die Abfahrt des Zuges würde zu einer unbestimmten Zeit in der Zukunft stattfinden. Ich selbst war ohne jede Eile zu diesem Bahnhof gekommen, und auch die, die schon dort warteten, schienen nichts Nahes zu erwarten, vielmehr sich in einem gewissen Warten eingerichtet zu haben. Außer diesen Personen, von denen ich annahm, sie würden wie ich einen Zug nehmen wollen, gab es auch einen Angestellten in dem Warteraum. Er begibt sich aus der Gruppe der Wartenden hinaus hinter einen Tisch, an dem man sein Gepäck zur Aufbewahrung abgeben oder seine Garderobe ablegen kann. Über beides denke ich kurz nach, finde aber nicht, warum ich das tun sollte. Der Angestellte begrüßt mich freundlich mit der Jovialität des Ortskundigen, der um die gelegentliche Unsicherheit der Fremden weiß. Er weißt mich höflich, ohne jegliche Peinlichkeit zu erzeugen auf eine Verformung meiner Kleidung hin: der rechte Ärmel meines Hemdes ist wie aufgebläht und hängt fast bis zum Tisch herab, auf den ich meine Hand stütze, während ich eine an der Wand dahinter angebrachte Tafel studiere. An dieser Tafel lässt sich ablesen, dass auch eine Unterkunft in diesem Gebäude möglich ist zu einem reellen Preis; sogar ein Spa-Angebot kann man für nach seinem Umfang gestaffelte Beträge in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeiten verschaffen mir, obwohl ich sie an dieser Stelle nicht zu nutzen gedenke, ein Gefühl der Behaglichkeit, denn jederzeit könnte ich mich in ein Bett oder eine Wanne mit warmem, sprudelndem Wasser legen. Bezüglich meines Hemdes klärt der freundliche Herr, der nur wenige Jahre älter sein mag als ich, mir aber an diesem Ort, den er am Besten von allen Anwesenden kennen wird, um viele Jahre voraus scheint, mich auf, dass die Ausbeulung des Ärmels wohl mit der falschen Position einer der Knöpfe im Brustbereich zu tun habe, und erbietet sich alsgleich, eine Korrektur vorzunehmen. Ich habe den Rucksack wohl mittlerweile schon abgestellt, und knöpfe mein Hemd auf und ziehe ohne zu zögern mein Hemd aus, um es ihm im vollen Vertrauen in seine Kompetenz in solchen Anlegenheiten zu überreichen. Um den Preis für die Leistung mache ich mir keine Sorgen, da ich davon ausgehe, er wird nichts oder allenfalls einen völlig angemessenen Preis dafür berechnen. In der Mitte der Wartehalle steht mittlerweile ein Tisch, um den sich einige der Wartenden zum Kartenspiel gefunden haben. Auch ich setze mich dazu und erhalte ein Blatt, kaum hat man einander Guten Abend oder Guten Morgen gewünscht. Meine Aufnahme in die Runde ich selbstverständlich, und ich gehe davon aus, verstanden zu haben, um was für ein Spiel es sich handelt, bis die Reihe an mir ist. Die meisten der Personen um den Tisch haben das Alter junger Pensionäre, wie man sie nicht selten im Sommer zu gemeinsamen Wanderungen aufbrechend in den Zügen findet. Die mir gegenübersitzende Dame greift, nachdem eigentlich schon ihre Nachbarin an der Reihe ist, nocheinmal nach dem Stapel, auf den sie eine Karte abgelegt hatte, um sie mit einer anderen Karte auszuwechseln. Sie erklärt entschuldigend, dass ihr bei diesem Spiel noch immer Fehler unterliefen, was von allen am Tisch ohne Proteste hingenommen zu werden scheint. Ihr Ehemann, das wird in seiner Mimik deutlich, würde sich selbst eine solche Überschreitung der Regeln nie erlauben, scheint aber von seiner Ehefrau ein solches Betragen schon gewöhnt zu sein und nimmt es mit einem Blick in eine andere Richtung hin. Die Frau weiß mit Sicherheit genau um das Empfinden ihres Mannes. Ich fühle mich in der Gesellschaft dieser Kartenspieler keineswegs unwohl, und denke, als wäre ich aus einem Erstaunen darüber schon hinausgekommen, indem ich diesen Bahnhof betreten habe: Nein, so schlecht sieht es doch gar nicht aus.

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