Addendum zu einem (derzeit?) nicht veröffentlichten Austausch elektronischer Nachrichten

31.01.2022

Liebe G.,

um gleich erst einmal zum ‚Wesentlichen‘ zu kommen: Wer oder was ist dann ich? Räumlich kann man sich das (ich) relativ einfach vorstellen wie einen beweglichen Knotenpunkt in einem (letztlich unendlichen, davon würde ich ausgehen) neuronalen System, zumal ist ich die Spuren (Erinnerungen?), die dieser Knotenpunkt durch seine Bewegungen in das neuronale System einschreibt: Woher ich kommt. wohin ich geht, um nur zwei uns aus dem zeitlichen Denken gewohnte Richtungen, Dimensionen zu nennen: Ich würde davon ausgehen, es gibt viele weitere Achsen, die unserer bewussten Wahrnehmung weniger vertraut sind, für die die Physiker_innen noch den einen oder anderen Begriff haben mögen, darüber hinaus einige, viele, unendlich viele, wer weiß das schon, für die wir keine Bezeichnungen zuhanden haben. Wieweit ich das ist, was uns bewusst werden kann? Das würde vielleicht die Anzahl der Achsen einschränken, die für unsere zu einem bestimmten Zeitpunkt (Raumpunkt) sich ereignende ich-Wahrnehmung relevant sind.

Diese Bewegungen von ich bedeuten ständige Begegnungen, führen sie doch sozusagen beständig durch Teile von anderen ichs, die man auch miteinander teilen mag, das ist wieder ganz einfach, eigentlich: Ein Stück weit wohnen Du und ich derzeit im selben Deutschland, ein Stück weit in unterschiedlichen Deutschlands. Ein Stück weit saßen wir, wenn wir einander dort trafen, im selben Alsterpavillon, ein Stück weit in unterschiedlichen Alsterpavillons. Nun werden wir höchstwahrscheinlich so bald nicht wieder miteinander im Alsterpavillon sitzen, weil wir einen angenehmeren Ort für Treffen im Hamburger Zentrum gefunden haben, aber eingeschrieben haben wir uns bereits in den Alsterpavillon, bleiben mit ihm verschränkt, waren die, die dort miteinander gesessen haben, so wie wir die sein werden, die irgendwo anders miteinander sitzen werden (wer weiß, vielleicht in Südafrika einmal an irgendeiner Straßenecke): Bloß reicht die Spur, Tag für Tag, weiter zurück, selbes gilt wohl für das, was wir Zukunft nennen. Und, ja, konsequent muss man wohl davon ausgehen: Wir bewegen uns nicht von Zukunft in Vergangenheit, sondern zwischen Zukunft und Vergangenheit, die scheinbare Linearität der Abläufe (aus der Vergangenheit in die Zukunft) ist ein Wahrnehmungsfehler, beziehungsweise: eine mögliche Art, sich zu orientieren, zu navigieren durch Geschichten und Geschehnisse, die wir nur sehr bedingt verstehen, zumindest dort, zu dem Zeit-, an dem Ortspunkt, an dem wir gerade sind.

‚Verschränkung‘, das ist natürlich der Begriff aus der Quantenphysik, den auch Walter von Lucadou gebraucht. Hier fügt er sich wie folgt ein: Überlagerung, sei es zwischen Dir, Alsterpavillon und mir, führt zu Verschränkung, will heißen: Verbundenheit, die nicht an Linearität gebunden ist. Wir (Du, ich, Alsterpavillon, und was da sonst noch alles war an Menschen, Luft, Erinnerungen und so weiter war, ist) bleiben miteinander verbunden, ewig, auf eine Art, auch wenn unser jüngster gemeinsamer Besuch im Alsterpavillon einige Monate her ist, irgendwann einige Jahre, Jahrzehnte und so weiter her sein wird, und wir längst irgendwo ganz anderes sein mögen. So eine Verschränkung erfolgt, soweit ich den quantenphysikalischen Hintergrund des Begriffs erinnere, dort nur ab einer gewissen Stärke der Begegnung (zweier Quantenobjekte, in dem Fall) – für das Modell hier würde ich sagen, sie erfolgt beständig, aber eben mehr oder weniger stark, eindrücklich, ‘bildend‘, durchaus im Sinne der Bildung auch.

Dein ‚ich‘ befand sich, am 30.01.22 um ca. 17:00 (wie wir so sagen …) also am Rechner, schrieb ein Mail an mich, war hoffentlich guter Laune dabei, war in Kommunikation mit mir, in Überlagerung mit mir, war ein Stück weit also (da die Verschränkung!) das, was ‚ich‘ (womöglich zu einem anderen ‚Zeitpunkt‘, denn es hätte ja auch fünf Minuten, bevor Du das Mail geschrieben hast, ein Meteor auf die Allee der Kosmonauten niedergegangen sein können, und ‚zeitlich‘ wäre ich schon ganz wo anders gewesen) Dir als anderer bin. ‚Aktuell‘, vermute ich, befindet sich Dein ‚ich‘ schon wieder wo anders – hört aber dabei (lebendige Spuren, sozusagen) nicht auf, auch dieses ‚gestrige‘ ‚ich‘ zu sein. Es ist bloß weiter-, wo anders hingegangen. und es kann (‚theoretisch‘ sozusagen) auch wieder dorthin zurückgehen, so einfach (‚theoretisch‘, zumindest) wie ich (Hannes), auf Besuch in Göttingen, beispielsweise, einmal wieder eine Runde um den Kiessee drehen oder wieder einmal in die Sonderbar gehen kann, wo ich schon lange nicht mehr war.

Ein bisschen, womöglich auch sehr anders wird es sein, klar, weil mittlerweile anderes hindurchgegangen ist, Spuren hinterlassen hat, und weil man selbst von wo anders kommt, wenn man zurückkehrt – man kann also in denselben Fluss wieder steigen, doch, aber derselbe Fluss: Ist ein anderer (frei nach Heraklit und Rimbaud). Beständig ereignet sich so etwas, glaube ich, in zwischenmenschlichen Begegnungen zum Beispiel: Da treffe ich etwas von jemand ganz anderem in Dir wieder, Du etwas von jemand ganz anderem in mir. Diese ganz anderen: Liegen dabei womöglich zum Zeitpunkt unserer Begegnung unter der Erde oder sind noch nicht geboren, aber Spuren sind vorhanden, und Verschränkungen geschehen (schön, dass die Grammatik hier das Tempus offenlässt).

Über die Überlagerung/Verschränkung mit ‚mir‘ hinaus, abgesehen von den Spuren, die irgendwie aus unseren Kommunikationen miteinander zu Deinem Schreiben einer Nachricht an mich geführt haben, war Dein ‚ich‘ während Du ein Mail an mich schriebst, natürlich auch von zahlreichen anderen Überlagerungen gebildet (jaja, das kann man durchaus auf den Bildungsbegriff hin auch denken!): Von der Frau Deiner Tochter schreibst Du, von mehreren Frauen, die ihr Mütter sind, von Kollegen aus Kirche und Akademie und von U., der vielleicht sogar ganz konkret durch das Zimmer ging, während Du schriebst und so weiter.

Und der kleine oder große, ganz konkrete Drache?

Der ist Teil der Welt, dadurch auch Teil von Dir, dadurch ‚Du‘, und die Frage ist wieder: Wie nah oder fern dem, wo Du dich ‚gerade‘ befindest, ist dieser Drache, ist Du, Dein ich, dieser Drache. Wie weit fort führen die Spuren? Wiedergeburt ist ein fragliches, aber recht handliches Bild dafür: Du ‚warst‘ dieser Drache X Biographien vor dieser oder wirst dieser Drache Y Biographien nach dieser Biographie sein, und dieser Drache befindet sich ja auch (inmitten seiner Drachenfreund_innen, in seiner Höhlenwelt, mit seinen Drachentränen und Feuerkünsten oder wie auch immer) irgendwo und ist beweglich, und wenn Du heute noch einem Drachen begegnest (im zweiten Untergeschoss unter Eurer Wohnung, unter der Garage etwa), mag es sein, dass Du – seinerzeit als Drache – weitgehend Dich auch ‚schon einmal‘ dort befunden hast, wo der sich gerad befindet – mit mehr oder weniger großer Differenz, weil Deine Spuren andere sind als seine, weil Du wo anders her kommst, wo anders hingehst. In den verschiedenen Spuren läge also sozusagen eine gewisse Individualität. Die Individualität also: als eine Art Itinerarium, wenn wir nach ihr suchen?

So etwas dann als ‚Persönlichkeitsanteile‘ zu lesen ist auf eine gewissen psychologischen Ebene natürlich auch möglich, das ist vielleicht ein ähnlicher Wahrnehmungsfehler, ein ähnlicher Orientierungsversuch wie die Zeitlichkeit, aber dies ‚ich ist ein anderer‘ ist schon weit darüber hinaus ganz konkret gemeint …

Naja, so viel morgendliche ontologische Akrobatik erst einmal, und nun zu something mehr oder weniger completely different […]

Soweit einstweilen, mit herzlichen Grüßen

– Hannes

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