Vertieferungen: nach Lüneburg. Die Geschichte von Hossein, zweiter Teil (Leseprobe)

Auf einer Blitzlichtaufnahme sehen wir den Weihnachtsmann in einer Sporthalle stehen. Durch den den Weihnachtsmann erhellenden Blitz ist der Hintergrund ganz dunkel, als sei alles Übrige schon in Vergessen getaucht, als gäbe es all die Leute, die im Hintergrund beieinanderstehen, nicht mehr. An den über den Basketballkörben angebrachten Scheiben hängt Schnee, vermuten wir, denn eine weiße Farbe dort wurde vom Blitz auch hervorgehoben. Der Weihnachtsmann trägt sein Weihnachtsmannkostüm gegürtet wie einen Kung-Fu-Anzug, wobei der Gurt weiß und nicht schwarz ist; weiß ist auch der Rauschebart, die Handschuhe, der Bommel auf der roten Mütze und so weiter. Wenn man näher an das Bild heranzoomt, ist man sich fast sicher, dass der Weihnachtsmann unter dem etwas schief aufgesetzten Bart lächelt, aber die Augen, hat man den Eindruck, lächeln nicht mit, würden lieber woanders hinblicken als in die Kamera, als würde der Mann nur ungern aufgenommen werden von der Kamera in diesem Kostüm. Dennoch trägt er brav den groben Leinensack über der Schulter.

Das Foto erinnert, wenn man es länger betrachtet, ein bisschen an das Gemälde des Oberförsters, in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle kann man es sich ansehen. Eine ähnlich wie der Weihnachtsmann in Rot, hier aber in Grün gekleidete Gestalt steht inmitten von Bäumen, hat das Gewehr geschultert, wie dieser Weihnachtsmann den Sack geschultert hat, aber beide scheinen, als wüssten sie nicht recht, wofür das Gewehr, wofür der Sack denn zu gebrauchen sei, und beide wirken ihrer Umgebung enthoben, als sei der Wald nicht mehr der des Försters, sondern ein schon entschwundener, oder schon enteigneter, wie auch der Hintergrund hinter dem Weihnachtsmann schon beinahe verschwunden wirkt im Dunkel, trotz der Lichter an der Decke der Halle, trotz der Grüppchen, die beieinanderstehen, weil die Gestalt des Weihnachtsmannes von ganz anderer Helligkeit und Deutlichkeit als alles sie Umgebende ist, und dieser Fokus rückt den Weihnachtsmann wie aus der Szenerie heraus in den Vordergrund.

Das ist eine Geschichte, dieses Foto, sagt Hossein. Ich kam zum Verein Sportfreude Lüneburg, die rufen mich an, Herr Rasnai, kommen Sie, wir müssen mit Ihnen reden, was ist wieder los? Herr Rasnai, sagen die, bitte, wir haben dieses Jahr keinen Weihnachtsmann, das sollte einer machen, aber der ist krank geworden, hat abgesagt, und da haben wir gedacht … Ich, Weihnachtsmann, fragt Hossein, und versucht: Aber ich kenne so etwas doch gar nicht, und habe so etwas noch nie gemacht, aber die hatten keinen anderen, und irgendwer, wer, das entzieht sich Hosseins und unserer Kenntnis, wird es für eine ganz tolle Idee gehalten haben, Hossein zum Weihnachtsmann zu machen, und so ging es bitte, bitte, bitte, und schließlich:

Das war in einer großen Übungshalle, sagt Hossein, und da haben die so eine Weihnachtsparty gemacht für den ganzen Verein, und Hossein sollte das Kostüm tragen, und Hohoho, und so, und die Kinder singen ein Lied und er gibt ihnen dann Geschenke, na klasse, sagt Hossein, kommt das erste Kind rein, rein, guckt mich an,

und, fragt Hossein mich, kannst du mich erkennen? Ich gucke mir das Bild genauer an, Hosseins Nase hebt sich recht deutlich aus der Verkleidung hervor, aber auf den ersten Blick …

Auf den ersten Blick, sagt Hossein, kommt das Kind auf mich zu und sagt: Mama, Mama, guck mal, Hossein! Und dabei, sagt Hossein, haben die mir versprochen, dass niemand mich erkennen wird.

Wir wissen nicht recht, ob Hossein tatsächlich nicht gerne Weihnachtsmann war, und ob er tatsächlich gedacht hat, niemand würde ihn erkennen. Das Foto bleibt, und deswegen hatte er es auch mitgebracht, um zu zeigen, selbst Weihnachtsmann war er schon, in Lüneburg, das Bild ist von 1998, glaubt er, 1996, 1997 muss er nach Lüneburg übergesiedelt sein, nach einem eher kurzen Interim wieder in Hamburg nach den Jahren in Düsseldorf, und somit in ein, je nach Zählung, sagen wir einmal: drittes Leben nach der Zeit in Teheran und der Zeit in Hamburg, die von seiner Exkursion nach Düsseldorf unterbrochen worden ist. Wie zählt man Leben innerhalb eines Lebens? Daran, wie oft man wieder aufsteht, und den Vorgang des Wiederaufstehens könnte man Vertieferung nennen? Auch dann wären wir in Hosseins drittem Leben, wenn er das zweite begann, nachdem er vom Militär in das Loch gesperrt wurde, und das dritte begann, nachdem er Düsseldorf überlebt hatte.

Gegen Ende der 1990er Jahre ist Hosseins erste, ehemalige Frau mit den Kindern in die Nähe von Lüneburg gezogen, Hossein hatte die Arbeit im Restaurant bereits aufgegeben, gab seine Kurse, und wenn er am Wochenende keine Kurse geben musste, dann kam er nach Lüneburg, um dort zu sein und die Kinder sehen zu können, hatte sich ein kleines Zimmer gemietet für hundertfünfzig Mark damals, glaubt er sich zu erinnern.

Meine erste eigene Wohnung in Göttingen hatte Ende der neunziger Jahre auch nur, aber immerhin, zweihundertdreißig Mark gekostet im Monat. Es handelte sich um zwei kleine Zimmer unterm Dach eines nicht sehr gepflegten Hauses, die gemeinsame Toilette lag zwei Stockwerke tiefer und zum Duschen ging ich in die Arbeitswohnung meiner Mutter, die einige Häuser entfernt lag. Das war noch eine ganz anders bewohnbare Welt als heute, wo man in Göttingen kaum ein Zimmer unter fünfhundert Euro bekommt – tausend Mark, davon lebte ich damals im Monat, und nicht zu schlecht.

Eines Wochenendes war Hossein in Lüneburg, und die Kinder waren nicht da, die waren Oma und Opa besuchen, oder was auch immer. Hossein war schon nach Lüneburg gefahren, als er erfuhr, dass die Kinder nicht kommen würden, das war an einem Samstagvormittag, wenn er sich richtig erinnert, und so ist er spazieren gegangen. Er kannte Lüneburg noch nicht gut, ist durch die Innenstadt erst gegangen, durch eine Innenstadt, die ihm fürderhin so vertraut und seine werden sollte, was eine interessante Übung ist, sich zu erinnern, wie man Orte, die einem zu eigenen geworden sind, als noch fremde Orte das erste Mal betrat. Er war zum Kurpark gekommen, hatte dort ein bisschen trainiert, den Kurpark kannte er, weil er mit den Kindern oft schon da gewesen war, aber es waren zu viele Leute im Kurpark bei dem guten Wetter, Frühjahr, Sommer, vermuten wir, und so ist er weitergegangen auf der Suche nach einem Ort, wo er in Ruhe trainieren kann, und hat gesehen: Oh, Riesenfußballplätze, kein Mensch weit und breit, und neben den Fußballplätzen lagen Hallen, deren Türen weit und breit geöffnet waren, und da ist Hossein dann einfach reingegangen.

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